#639 Strafverfahren haben eine Tendenz zur Selbstbestätigung

Anklage gegen Paul Gauguin: Dieser soll van Gogh das Ohr abgeschlagen haben

Die Geschichte von Vincent van Gogh, der sich im Wahn sein Ohr abgeschnitten haben soll, ist weithin bekannt. Rita Wildegans und Hans Kaufmann stellen in ihrem Buch „Van Goghs Ohr: Paul Gauguin und der Pakt des Schweigens“ eine alternative Theorie auf: Paul Gauguin soll van Goghs Ohr im Streit abgeschnitten haben. Duri und sein Gästin Sophia untersuchen die Stichhaltigkeit dieser „Anklage“. Thema ist Gauguins „Nachtat“-Verhalten und seine wechselnden Schilderungen des Vorfalls. Deutet dies auf eine Lüge hin oder ist es nicht natürlich, dass sich Erinnerungen mit der Zeit verändern? Und welchen Einfluss haben die Erwartungen des Gegenübers auf die Aussagen, aber auch auf das Verständnis des Gehörten? Interessanterweise beschuldigt van Gogh Gauguin an keiner Stelle. Wie ist dieses Schweigen zu interpretieren? Wäre nicht zu erwarten, dass das Opfer einer so schweren Körperverletzung den Täter anzeigt oder zumindest mit der Tat konfrontiert? Zentral ist die Herangehensweise des Strafgerichts an einen Kriminalfall: Wenn es bloss die von der Staatsanwaltschaft gesammelten Beweise sichtet und dabei die Anklage „abhakt“, wird es die Anklage leicht bestätigt sehen. Denn natürlich „stimmt“ meist, was da steht. Aber: Was da steht, ist nur eine der möglichen Interpretationen dessen, was geschehen sein könnte. Das Strafgericht muss deshalb aktiv nach alternativen Erklärungsansätzen suchen, sonst kommt es leichtfertig zu einem Schuldspruch. Aus diesem Grund haben Strafverfahren eine Tendenz zur Selbstbestätigung. Deshalb wäre es auch wichtig, dass sich das Gericht einen eigenen Eindruck von den Zeugen und den sonstigen Beweismitteln verschafft, mithin sich nicht einfach auf die Untersuchungsakten der Staatsanwaltschaft verlässt. „Wahr“ ist letztlich, was zwei von drei Richtern für wahr halten.

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